Unser Vater im Mittelalter #
Das Vaterunser ist dasjenige Gebet, das die christliche Tradition auf Jesus selbst zurückführt und das in seinem konkreten Wortlaut bereits im Matthäus- und Lukasevangelium vorgegeben wird. Damit konnte es seit den frühesten christlichen Bezeugungen zum zentralen Ideal- und Normgebet der Christenheit werden – und damit auch zu einem spannenden Untersuchungsgegenstand für eine interdisziplinäre Mittelalterforschung:
- Als Idealgebet (Lk 11,1-4) weist es nämlich eine große historische Kontinuität auf, aber um angesichts wandelnder kultureller Kontexte und Anforderungen in den mittelalterlichen Jahrhunderten handlungsleitend bleiben zu können, muss immer wieder Interpretation und Aktualisierung erfahren. Daher ermöglicht es Einblicke in theologischen Wandel sowie in zeitspezifische religiöse Erfahrungen, Praktiken und Anfragen im diachronen Vergleich.
- Zugleich ist es von Anfang an als Norm des Betens verstanden worden (Mt 6,9: „So sollt ihr beten …“) und auch die kirchlichen Autoritäten des Mittelalters nehmen es mit großer Kontinuität als normativen Maßstab für christliches Wissen, Unterweisung und Qualitätskontrolle auf. Damit führt dieses Gebet immer auch an interessante Schnittstellen zwischen theologischer Reflexion, katechetischer Unterweisung und gelebter Praxis. So vermag es Einblicke in Erwartungshaltungen unterschiedlicher sozialer Gruppen an diesen Text zu vermitteln und Impulse und Gruppierungen innerhalb des Oberbegriffs ecclesia/Christentum zu profilieren, die dazu anregen, Grenzen zwischen Laien und Klerus zu hinterfragen und die Vielfalt theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Impulse zwischen gelebter Praxis und theologischer Disputation ernst zu nehmen.
Über das Projekt #
Unser Projekttitel „Vater UNSER – Verständnis und Verwendung im Mittelalter (800–1500)“ will diese zwei Dimensionen aufnehmen: Mit „Verständnis und Verwendung“ betonen wir, dass wir durchaus bei den theologischen Reflexionen bekannter und unbekannter Vaterunser-Auslegungen des Mittelalters ansetzen. Zugleich weiten wir den Blick aber von der klassischen Auslegung hin zu deren unterschiedlichen Anwendungsfeldern und Adressatenkreise (sowohl des Textes selbst wie auch für den ebenfalls variierenden Nutzungskontext in der konkreten Manifestation einer mittelalterlichen Handschrift). Wir interessieren uns für das Zusammenspiel von sprachlicher Gemachtheit und theologischen Durchdringungen und Transformationen, für den „Sitz im Leben“ des Gebets von Katechese und Liturgie über die Frömmigkeitspraxis in und außerhalb von Klostermauern bis hin zu Schreibernotizen, Sprachstudien etc. Das großgeschriebene UNSER visualisiert dabei die dem zugrunde liegende zweite Ebene der Aneignungspraktiken: Uns geht es um die multiplen Vaterunsers, den „unsers“, denen wir in den vielfältigen Anfragen, Aneignungen und Inanspruchnahmen des Herrengebets zu unterschiedlichen Zeitpunkten und durch unterschiedliche soziale Gruppen in mittelalterlichen Quellen begegnen.
Um zu solchen lebensweltlichen Kontexten durchzudringen, machen wir uns aktuelle Methoden einer kultur- und materialitätsgeschichtlich perspektivierten Handschriftenforschung zunutze. Anhand des wegen seiner weitgehend geschlossenen Überlieferung einmaligen St. Galler Handschriftenbestandes erschließen wir Verwendungszusammenhänge des Vaterunsers aus seinen kodikologischen Kontexten sowie aus den materiellen Spuren der Aufbereitung und Rezeption. Das bedeutet zugleich keine automatische Einengung auf monastische Lebenskontexte: Nicht nur sind auch Bücher aus Frauenkonventen und Privatbesitz in den historischen Bestand eingegangen, sondern in Form von katechetischen Aufgaben und Anfragen an das Kloster und nicht zuletzt durch die breiten Netzwerke der Wissenszirkulation im Überlieferungsvergleich der Handschriften ist es das Gebet selbst, das nicht nur Klostermauern sprengt, sondern wichtiger noch etablierte Denkmuster von Gattungen und Expertentum.